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Kritische Wissenschaft statt organisierter Belanglosigkeit

Graffiti in Frankreich: "Nieder mit dem Kaviar, es lebe der Döner"
Graffiti in Frankreich: „Nieder mit dem Kaviar, es lebe der Döner“

Die verordnete Harmonie- und vor allem Konsumstimmung von Weihnachten will nicht so richtig greifen: Auf einem Banner in Frankreich steht „Zu viele Steuern, zu viele Reiche, zu viele Arme, zu viele Selbstmorde“, hunderttausende blockieren seit Wochen Straßen, Kreuzungen und Werktore von Großkonzernen. Prekär Beschäftigte, HandwerkerInnen, Erwerbslose und RentnerInnen, SchülerInnen und Studierende sowie Selbständige und KleinunternehmerInnen demonstrieren gemeinsam für ein Ende der neoliberalen Reformen: die Gilets Jaunes – die Gelbwesten – proben den Aufstand. Auslöser ist der Unmut über eine geplante Spritsteuererhöhung, die Macron – der Agenda 2010 verehrende Präsident der Reichen – als Klimaschutz verkaufen will, nun aber erstmal zurücknehmen musste. Die Forderungen der Gilets Jaunes umfassen die Erhöhung des Mindestlohns, der Sozialhilfe und der Rente. Der Protest ist Ausdruck einer angewachsenen Wut über die dauerhafte Verschlechterung der Studien-, Arbeits-, und Lebensbedingungen in den letzten Jahrzehnten. Was sich in Frankreich aktuell Bahn bricht, lauert in ganz Europa unter der porösen neoliberalen Oberfläche. In Wien gingen Tausende gegen die FPÖ-Regierung und ihre rechte Politik und in Budapest gegen Orban und sein neoliberales Arbeitsgesetz auf die Straße. „Die Krise besteht gerade in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann“ (Antonio Gramsci: GH 3, §34, 354f.).

Es kommt also darauf an, in der Krise der neoliberalen Hegemonie das Neue auf die Welt zu bringen.  Wissenschaft und Bildung haben dafür immense Bedeutung, wenn sie im Interesse der großen Mehrheit an humanen Lösungen arbeiten – eine alltägliche Entscheidungssituation. Beschäftigen wir uns wissenschaftlich mit Ursachen, Anlässen, Forderungen und deren Umsetzungsmöglichkeiten bspw. der Gilets Jaunes, um die neuen Erkenntnisse in Praxis für die Durchsetzung sozialer Anliegen zu überführen? Oder verheizen wir uns auf der Jagd nach den Leistungspunkten und verrennen uns im Drittmittelhamsterrad? Wirken wir mit emanzipatorischer Bildung und kritischer Wissenschaft dafür, dass es nicht nur bei Protest und Blockaden bleibt, sondern dass wir als Bevölkerung engagiert, involviert und befähigt die Geschicke selber in die Hand nehmen? Oder gehen wir an der organisierten Belanglosigkeit, weil es dominant um Prüfungen, Abschluss und Erfolg gehen soll, zu Grunde? Stellen wir – zur Veränderung der sozialen Praxis – die wichtigen Fragen dieser Zeit in den Seminaren, Lerngruppen und Vorlesungen – in der Wissenschaft!

Dafür, dass die wichtigen Fragen nicht offen, streitbar, argumentativ gefunden und bearbeitet werden, hat die unternehmerische Hochschule durch neoliberale Deformen gesorgt. Die Bachelor-Master-Quälerei bedeutet dauerhafte Leistungsabfrage statt erkenntnisorientiertes, gesellschaftliches, kritisch fragendes Voranschreiten. Daraufhin, dass wir in unser Humankapital investieren, uns an Konzerninteressen anpassen, verwertungstauglich und profitdienlich werden, statt kritische, souveräne Persönlichkeiten. So verkommt das Studium zur organisierten Belanglosigkeit.

Doch die unternehmerische Hochschule ist ideologisch erschöpft. Die Uni Hamburg hat sich auf Basis studentischer Kämpfe dazu verpflichtet (jüngst im Struktur- und Entwicklungsplan), zu den Nachhaltigkeitszielen der UN (SDGs) beizutragen. Damit haben wir uns als Uni nichts Geringeres vorgenommen, als global für ein Ende von Armut, Hunger, Krieg und Naturzerstörung sowie für gute Arbeit, Bildung, sauberes Wasser für alle und die Überwindung von Klimawandel und Ungleichheit zu kämpfen. In der Resolution über die SDGs der UN-Generalversammlung vom 25. September 2015 heißt es: „Wir sind entschlossen, die Menschheit von der Tyrannei der Armut und der Not zu befreien und unseren Planeten zu heilen und zu schützen. Wir sind entschlossen, die kühnen und transformativen Schritte zu unternehmen, die dringend notwendig sind, um die Welt auf den Pfad der Nachhaltigkeit und der Widerstandsfähigkeit zu bringen.“

Darauf können wir uns nicht ausruhen, aber aufbauen: die Orientierung an den SDGs muss mit einer souveränen Konfliktfähigkeit gegen Unterfinanzierung und Exzellenzkultur ausgebaut werden. Kämpfen wir für „Wissenschaft als Selbstbefreiung des Menschen“ (Rudi Dutschke)! Als Verfasste Studierendenschaft sollten wir daher offensiv für Demokratisierung (Viertelparität in Gremien), Ausfinanzierung (Masterplatzgarantie), „Marx an die Uni“, Friedenswissenschaft (Zivilklausel im Hochschulgesetz) und forschendes, gesellschaftsverantwortliches Lernen (Projektstudium) kämpfen. Auch dafür ist Frankreich aktuell eine Ermutigung: dort haben in Solidarität mit den Gelbwesten SchülerInnen und Studierende hunderte Schulen und Fakultäten besetzt.

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