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Mythos Bologna: Geschichte und Perspektiven einer umkämpften Entwicklung

Geschichte
Modularisierung, Anwesenheitspflicht, Credit-Points, Bachelor, Master – Alles Begriffe, die heute zentral den Studienalltag von Millionen Studierenden prägen – bis vor einigen Jahren an den Hochschulen aber nicht existierten.
Dieser Artikel möchte euch zeigen, dass der Bologna-Prozess nicht über uns herein gebrochen ist wie ein Gewitter, sondern Ausdruck einer gesellschaftlichen Entwicklung ist, die die Funktionsweise und Logik von Bildung und Wissenschaft fundamental verändert hat. Er ist aber eben auch umkämpft, damals wie heute, und selbstverständlich veränderbar.
Die 68er haben durch ihre Kämpfe gegen die nationalsozialistische Kontinuität an Uni und Staat und für eine Kritische Wissenschaft eine grundlegende Umgestaltung der demokratischen Strukturen an den Hochschulen sowie eine soziale Öffnung des Studiums durchgesetzt. Die Verdoppelung der Studierendenzahl von Mitte der 1970er Jahre bis 1994 wurde allerdings nicht mit einer bedarfsgerechten Aufstockung der Mittel begleitet, sondern die Finanzierung wurde stattdessen eingefroren. Die durch diesen selbst geschaffenen Missstand entstandenen Probleme wurden dann als Argument benutzt, marktförmige Mechanismen im öffentlichen Bildungssystem zu installieren, Drittmittelabhängigkeiten zu erhöhen und die Hochschulen um die künstlich verknappten Mittel konkurrieren zu lassen. So hat sich z.B. das Verhältnis von Grund- zu Drittmitteln in der Forschung von 2:1 im Jahre 1995 auf 0,85 : 1 im Jahr 2008 verschlechtert. (Drittmittel sind Gelder, die nicht aus dem Etat der Hochschulen (Erstmittel) und nicht von staatlichen Stellen bzw. Stiftungen (Zweitmittel) kommen, sondern von Unternehmen oder privaten Geldgeber*Innen)
Dieser wieder erstarkte Marktfundamentalismus, der nach dem Wegfall der „Systemalternative“ 1989 allgegenwärtig war, war auch die treibende Kraft, die Gruppenhochschulen der 68er von der Hochschule als Dienstleistungsunternehmen, das sich im internationalen Wettbewerb beweisen muss, ablösen zu lassen.
Diese gesellschaftliche Entwicklung wurde im Bildungssektor maßgeblich von Akteuren wie dem European Round Table of Industrialists, einer Lobbyorganisation europäischer Großkonzerne, der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft oder dem Centrum für Hochschulentwicklung der Bertelsmann-Stiftung vorangetrieben. Bildung und Wissenschaft wurden als Standortvorteil in der internationalen Konkurrenz verstanden und der Sinn von Unis in der Ausbildung von „Humankapital“ gesehen.
Auf zahlreichen Konferenzen sowohl der Wirtschaft als auch des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung wurde sukzessive dafür geworben, dass u.a. das Studiums unterteilt wird in eine erste Stufe (Bachelor), die die Masse möglichst schnell für einen Beruf qualifizieren soll, und eine zweite Stufe (Master), die zu einer Karriere in Wissenschaft und Forschung befähigen soll.
Bis zur Verabschiedung der Bologna-Erklärung war es aber keinesfalls ein gerader Weg. Während des gesamten Prozesses waren die Reformvorschläge stets umkämpft. So konnte z.B. 1997 durch die bundesweiten „Lucky Streiks“ verhindert werden, dass das vom CDU-Ministerium vorgeschlagene „Credit-Point-System“ mitsamt den Studiengebühren eingeführt wird.
Die Bologna-Erklärung selbst, was oft übersehen wird, sieht keinesfalls zwingend vor, in Bachelor und Master zu unterteilen, sondern spricht stattdessen von zwei Zyklen, die genauso gut Diplom und Promotion hätten bleiben können. Von Modularisierung, Anwesenheitspflicht und Credit-Points steht dort ebensowenig.

Kritik und Möglichkeiten an der Uni Hamburg
Der Bologna-Prozess hat die Hochschulen und das Studium also grundlegend umstrukturiert.
Durch Proteste wie den Bildungsstreik 2009 und der Audimax-Besetzungswelle im Winter 2009/10 wurde die Kritik am Ba/Ma-System und der zunehmenden Neoliberalisierung des Bildungssystems öffentlich stärker wahrgenommen. Auch an der Uni Hamburg hat sich breiter Widerstand formiert, der neben der Kritik des Bestehenden auch aktiv nach positiven Lösungs- und Entwicklungsmöglichkeiten sucht. Dazu zählt die Konferenz „Schöne neue Bildung?!“, die im Sommer 2010 an der Fakultät für Erziehungswissenschaften, Psychologie und Bewegungswissenschaften stattfand. Auf der Konferenz, die mitgliedergruppenübergreifend organisiert wurde, das heißt von Studis, Uni-Mitarbeiter*Innen und Professor*Innen, wurde sich mit Vorträgen, Diskussionen und Workshops mit der Frage auseinandergesetzt was Bildung eigentlich für die Gesellschaft bedeutet und was die Uni für eine gesellschaftliche Aufgabe hat. „Wie kann [die Uni also] – gegen den neoliberalen Zeitgeist – weiterhin ihrem Auftrag zur Mitgestaltung einer humanen, toleranten und friedlichen Welt gerecht werden?“ (Zitat aus dem Buch „Schöne neue Bildung?!“, das im Anschluss der Konferenz im transcript-Verlag erschienen ist)

Die daraus folgende Kritik an der zunehmenden Verschulung und des Konkurrenzdruckaufbaus durch das Ba/Ma-System wurde weiter geschärft und in den Gremien dieser Universität vertreten. Nach längeren Auseinandersetzungen fand dann im April 2012 ein Dies Academicus mit dem Titel: „Bologna 2.0 – Wie wollen wir in Hamburg studieren? an der Uni Hamburg statt. („Dies Academicus“ ist ein Tag, an dem keine Vorlesungen stattfinden und sich stattdessen uniweit mit einem Thema auseinandergesetzt werden kann oder eine Vollversammlung stattfindet)

Da haben wir uniweit zu verschiedenen Teilaspekten des Bologna-Prozess diskutiert und einige Verbesserungen festgeschrieben. Die gilt es jetzt umzusetzen und vor allem weiterzuentwickeln. Auch wenn in den Medien immer öfters propagiert wird, dass der Bologna-Prozess in vielen Teilen gescheitert sei und die Arbeitgeber sich über die unzureichenden Abschlüsse beschweren, es bestehen immer Möglichkeiten des Widerstands und der progressiven Verbesserung! Denn eine grundlegende Studienreform ist dringend notwendig!

Dafür müssen unter anderem folgende Punkte realisiert werden:

1. Module weg! Für die freie Seminarwahl!
Module fassen mehrere Veranstaltungen zu einem sogenannten Baustein zusammen, alle Bausteine aufeinander gestapelt ergeben dann einen Bachelor-Abschluss. Module lassen also keine interessegeleitete Seminarwahl zu, sondern geben vor, welche Veranstaltungen gemeinsam belegt werden müssen. Weiter ist der Lehrinhalt in diesen Modulen festgezurrt und lässt so wenig neu entwickelte Erkenntnisse zu.

2. Anwesenheitszwang weg! Für ein würdiges Miteinander!
Wir sind alle an der Uni, weil wir lernen, lehren und forschen wollen. Die Anwesenheitskontrollen entwürdigen nicht nur die Kontrollierten, sondern ebenso auch die Kontrollierenden. Dass Bildung nur durch Zwang möglich sei, ist ein viel zu veraltetes Bildungsverständnis, das endlich mal für immer und ewig verbannt werden sollte. Für einen kooperativen Umgang muss die Kontrolle weg, also muss der Anwesenheitszwang in allen Veranstaltungen abgeschafft werden.

3. Prüfungen grundlegend überdenken!
6 Klausuren am Ende jedes Semesters? Dazu noch Hausarbeiten? Viele sprechen vom Bulimie-lernen. Aus eigener Erfahrung können wir sagen: Von den unzähligen Mutiple-Choice-Klausuren bleibt nicht viel hängen. Darüber hinaus bleibt es beim nur Auswendiglernen von Bestehendem, anstatt als das kritische Hinterfragen zu verinnerlichen. Die Prüfungssituationen müssen abgeschafft werden zu Gunsten einer kooperativen Vereinbarung zwischen Studis und Lehrenden, wie wann wo und was zu prüfen ist, bei der alle Beteiligten etwas lernen können.

4. Fristen weg! Für ein lebenslanges Studieren
Modulfristen, die festlegen in welchen Zeitrahmen ein Modul belegt und abgeschlossen werden muss, erhöhen den Zeitdruck. Nicht die Erlangung neuer Erkenntnisse und das kritische Hinterfragen des Bestehenden stehen im Mittelpunkt des Studiums, sondern vielmehr das erfolgreiche Bestehen von (Modul-)Prüfungen. Damit sich etwas ändert, müssen als erster Schritt die Fristen abgeschafft werden, damit Studierenden bewusst studieren
können und nicht gehetzt werden.

5. ABK weg! Für eine Verwissenschaftlichung des Studiums!
ABK bedeutet: „Allgemein berufsqualifizierende Kompetenzen“, was das sein soll, weiß auch niemand so genau. Die Studierenden sollen auf den Arbeitsmarkt vorbereitet werden, auf dem es zu wenig Arbeitsplätze gibt. Wir werden also auf Konkurrenz- und Profilkampf getrimmt. Da wird völlig außen vorgelassen, dass erstens der kapitalistische Arbeitsmarkt ganz schön in der Krise steckt und zweitens die Arbeitswelt nicht immer so bleiben muss, wie sie gearde strukturiert wird. Wir sollten viel mehr diskutieren, wie wir den Arbeitsmarkt verändern und wie die Produktionsmittel in die Hände der Arbeiter*Innen gelangen.
Geht in Eure Fachschaftsräte, organisiert Euch für Verbesserungen, lasst Euch für die Gremienarbeit aufstellen und wählen, bildet und äußert Kritik und positive Veränderungen!

Trotz allem Druck von vielen Seiten: Du musst nicht nach 6 Semester mit Deinem Bachelor-Studium fertig sein. Wir sind es auch nicht. Fachschaftsratarbeit und Gremienarbeit kannst Du Dir beispielsweise bestätigen und Dir beim BAFöG anrechnen lassen: zwei Semester Gremientätigkeit = ein Semester länger BAFöG. Für weitere Tipps und Tricks sprich Deinen Fachschaftsrat an oder komm zu unseren wöchentlichen Treffen.

Weitere Lektüre zu diesem Thema:
✗ Nicole Gohlke/Florian Butollo: „Hochschule im Kapitalismus“, Hamburg, 2012
✗ Informationsbroschüre der FSRK: hier

2 thoughts on “Mythos Bologna: Geschichte und Perspektiven einer umkämpften Entwicklung

  1. Vielen Dank für den Artikel.
    Wo finde ich die Zahlen, dass sich Verhältnis von Grund- zu Drittmitteln in der Forschung von 2:1 im Jahre 1995 auf 0,85 : 1 im Jahr 2008 verschlechtert hat? Wo ist das veröffentlicht?
    Vielen Dank
    Hanno Steinke

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