Allgemein

Kritische Wissenschaft: Inhaltsflyer (4) zum Wahlkampf

Wissenschaft, ob innerhalb oder außerhalb universitärer Strukturen, findet in der Gesellschaft statt. Kritische Wissenschaft muss sich daher mit den Möglichkeiten und Bedingungen, unter denen sie stattfindet, auseinandersetzen. Somit ist für sie die Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse und damit von Herrschaft eine notwendige Voraussetzung. Wie jegliche Form der Kultur geschieht Wissensproduktion im Kapitalismus nach den Prinzipien der Verkäuflichkeit, das heißt, die Produktion und Funktion von Wissen richtet sich nach ihrer ökonomischen Verwertbarkeit aus. So wurde bspw. jüngst bekannt, dass das US-Verteidigungsministerium in den letzten Jahren mit über zehn Millionen Dollar Projekte zur Grundlagen- und Rüstungsforschung an deutschen Hochschulen finanziert hat, darunter auch Hamburg. Dass Wissenschaft dabei unmittelbar militärischen Interessen dient und sich nebenbei gesagt in der Rüstungsindustrie viel Geld verdienen lässt, liegt auf der Hand. Wenn heute von einer Wissensgesellschaft die Rede ist und es heißt, Deutschlands wichtigste Ressource sei das Wissen, so wird unmittelbar deutlich, dass Wissen hier zu einer ökonomischen Kategorie wird. Wissen wird zur Ware, die in der kapitalistischen Produktion und im internationalen Standortwettbewerb zum entscheidenden Wettbewerbsvorteil wird. Aus der betriebswirtschaftlichen Perspektive wird Bildung und Wissen zu Humankapital degradiert, welches den Wert des einzelnen auf dem Arbeitsmarkt steigert. Auch kritische Wissenschaft kann aus diesen Zusammenhängen nicht austreten und findet zwangsläufig unter diesen Bedingungen statt, macht diese aber zum Gegenstand ihrer Analyse und verhält sich somit selbstreflektiv. Sie ist damit immer auch Gesellschaftskritik. Aufgabe von Hochschulpolitik muss es sein, diesen Zusammenhang umzusetzen und der zunehmenden Ökonomisierung der Hochschulen und der Gesellschaft eine demokratische und soziale Entwicklung entgegenzusetzen: die Bedingungen der Lehre und Forschung zu ändern heißt auch, die gesellschaftliche Ordnung grundsätzlich in Frage zu stellen.

Die Entwicklung der Wissenschaft verläuft nicht gradlinig sondern in Kontroversen, welche die gegensätzlichen Interessen der Gesellschaft widerspiegeln. Die derzeitig vorherrschende VWL bspw. ist eben nicht objektiv, wie sie mit ihrem positivistischen Selbstverständnis (neutrale Beschreibung des Ist-Zustandes) immer behauptet, sondern sie betrachtet die Ökonomie vom Standpunkt der Kapitalist*Innen aus und vermittelt ihre Interessen als allgemeingültig und dem größtmöglichen Allgemeinwohl dienend. Dadurch werden die gegensätzlichen Klasseninteressen zwischen Kapital und Arbeit verschleiert: da wir alle – unterschiedlich ausgestattet mit Kapital, Boden und Arbeit - nur nach unserem größtmöglichen Nutzen streben, sitzen scheinbar alle im selben Boot. Formal sind alle gleichgestellt, unterschiedliche Interessen gibt es damit nicht mehr. Diese Vorstellungen vereint der homo oeconomicus als Abziehfolie eines betriebswirtschaftlich handelnden Individuums, ein Menschenbild, das außerhalb dieser Theorie freundlich ausgedrückt ziemlich untauglich erscheint. Kritische Wissenschaft muss gegensätzliche gesellschaftliche Interessen explizit berücksichtigen, indem sich gleichzeitig verschiedene Schulen und Paradigmen gegenüberstehen, Wissenschaftler*Innen sich mit anderen Theorien auseinandersetzen und Kritik an ihnen üben. Eine Wissenschaft die nicht entsprechend selbstreflektiv Wissenschafts- und Gesellschaftskritik miteinander verbindet, verkommt dadurch zur Legitimationsgrundlage der herrschenden Verhältnisse anstatt einen Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt zu leisten.

Eine Wissenschaft, die die kapitalistische Ordnung bewusst oder unbewusst als gegebenen Naturzustand auffasst, braucht dementsprechend auch ein ahistorisches Selbstverständnis und wird ihre Theorie eben dadurch rechtfertigen, dass sie objektiv gültig bzw. werturteilsfrei sei. Sie blendet aus, dass Gesellschaft menschengemacht und historisch gewachsen ist und dadurch immer auch änderbar ist. Dadurch, dass der Status-Quo in Theorien gegossen und damit das Bestehende zementiert wird, wird die Wissenschaft ihrem Gesellschaftsbezug und der damit einhergehenden Verantwortung für eine sozial und ökologisch nachhaltige Entwicklung nicht gerecht. Bezieht man dies mit ein, so hebt sich auch die vermeintliche Trennung zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wissenschaft und Politik auf. Statt beim Bestehenden verhaftet zu bleiben, muss die Möglichkeit geschaffen werden, Neues zu denken. Dafür müssen konkrete Fragestellungen, die sich aus der Gesellschaft heraus entwickeln, als Beitrag zur Problemlösung wissenschaftlich gefasst werden. So ist es z.B. sinnvoll, aus aktuellen Anlässen wie der Situation der Geflüchteten aus der sogenannten Lampedusa-Gruppe, diese Problematik in einer interdisziplinären Herangehensweise zu analysieren und daraus konkrete Handlungen abzuleiten, wie dies kürzlich am Fachbereich Sozialökonomie ausgehend von einer Gruppe Studierender im Rahmen einer Vorlesung geschehen ist. Dafür kommt es auf das kritische Eingreifen eines jeden Einzelnen an. Das fängt schon damit an, in Vorlesungen und Seminaren unangenehme Fragen zu stellen, sich selbstbewusst und kritisch zu positionieren, statt Bedenken und Zweifel am Vorgetragenen herunterzuschlucken oder als unwissenschaftlich und naiv abstempeln zu lassen.

Schreibe einen Kommentar